Deutschland als Problem


Oliver Zahn ist Theatermacher und Performer. Beim Performing Arts Festival Berlin hätte er sein Werk "Futur Germania" gezeigt. Ein Gespräch über Deutschland und Denkbewegungen.

von Iven Fenker

Oliver, Du wolltest Deine Performance "Futur Germania" beim Performing Arts Festival Berlin zeigen. Das findet nun aber digital statt. Wie reagierst Du darauf?

Ich zeige gar nichts. Das ist insofern ein Sonderfall, als dass die ganze Produktion durch die Pandemie verschoben werden musste. Das Stück hätte eigentlich Ende April in München Premiere gehabt und wäre jetzt beim PAF.

Hast Du über eine Übersetzung ins Digitale nachgedacht?

Das ist kein Stück, was es schon länger gibt und das man jetzt adaptieren könnte. "Futur Germania" ist ein Stück, dass auf der Begegnung von zwei Menschen auf der Bühne basiert. Dafür ein digitales Äquivalent zu finden ist schwer. Ich bin gar nicht grundsätzlich abgeneigt, dass man sich diese Kontaktbeschränkungen zum Anlass nimmt, um über andere Formate nachzudenken. Ich finde nur, dass es Sinn ergeben muss für die Arbeit, an der man gerade dran ist.

Ist es jetzt möglich, über ästhetische Konventionen nachzudenken?

Absolut. Aber das muss sich auch inhaltlich und formell anbieten. Bei dem Stück für das PAF war es konsequenter zu sagen, da macht man jetzt nicht eine Art von Entsprechung. Da war es besser zu sagen, das zeigt man halt erst wieder, wenn es geht.

Weil sonst die Wirkung verloren geht?

Ja. Das hängt von der künstlerischen Praxis ab, ob es Sinn ergibt, und mit was für einer Form, in den digitalen Raum zu gehen. Die Frage ist, inwiefern das ein Provisorium ist. Was davon ist ein Pflaster für eine akute Wunde, das man aber nicht mehr braucht, wenn man sich wieder versammeln kann und was ist ein ästhetisches Experiment, das auch dann noch eine Legitimation hat, wenn es wieder die Möglichkeit gibt, ins Theater zu gehen.

Bis wohin hast Du für "Futur Germania" geprobt?

Es wurde bei der Hälfte klar, dass der Lockdown kommt. Das Stück ist so konzipiert, dass ich relativ isoliert proben konnte. Ich habe dann noch vier Wochen weitergearbeitet, teilweise mit Einzelproben, mit Abstand und Desinfektionsmittel. Das ist jetzt auf einem Stand, wo man es aufführen könnte. Aber es braucht den tatsächlichen, physische Raum, in dem Leute aufeinander treffen können. Das ist sozusagen wie in die Schublade geprobt.

Wann wirst Du es aus der Schublade holen können?

Ich kann mir vorstellen, dass es von anderen Projekten überholt wird. Wenn dann wieder gespielt werden kann oder wenn nur Produktionen gespielt werden können, die einen Sicherheitsabstand zulassen, dann wird es, in der freien Szene wahrscheinlich noch mehr als im Staatstheater, einen extremen Premierenstau geben.

Würdest Du mit Masken und Abstand spielen lassen?

Wenn ich jetzt eine Produktion hätte, die extrem mit Körperkontakt arbeitet, dann fände ich es schwierig, da künstlerische Kompromisse zu machen. Ich bin in der glücklichen Lage, dass "Futur Germania" zum Beispiel unter Auflagen denkbar wäre. Das liegt aber immer im Ermessen der Künstler*innen.

Woran hast Du bei "Futur Germania" gearbeitet?

Ich setze mich grundsätzlich viel mit Geschichtsschreibung, Erinnerungspolitik und Wissenstransfer auseinander. Das sind auch Themen, um die "Futur Germania" kreist. Die Idee ist eine Art lebendiges Museum, im wesentlichen eine Ausstellung performativer Artefakte. Als Anlehnung ans Deutsche Historische Museum, also der Idee einer kanonbildenden Institution.

Wie wird das ablaufen?

Das Stück besteht aus einer aufgeführten Ausstellung performativer Artefakte, wobei eben nicht festgelegt ist, welche das sind. Das funktioniert wie ein Wikipedia-Artikel. In jeder Vorstellung kommt eine neue Person rein und editiert das Bisherige.

Schreibt den Artikel also weiter?

Genau. Also wirft Sachen raus, fügt neue Sachen ein. Es kommt immer eine Person dazu und eine geht ab. Am Aufführungstag findet die Überlieferung dieses Kanons von der einen Person an die Nächste statt. Das ist wie stille Post.

Was könnte eine Überlieferung sein?

Das können Tänze, Lieder oder Praktiken sein. Alles, was, wenn es aufgeführt wird, kein Zeichen für etwas wird, sondern für sich selbst steht.

Was könnte demnach keine Überlieferung sein?

Es kann zum Beispiel nicht der Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Ghetto sein. Es kann aber theoretisch der Macarena-Tanz dabei sein. Das Stück ist ein performatives Museum, das performative Artefakte ausstellt.

Wie das Zuprosten mit einem Bier?

Das könnte dabei sein. Oder Schunkeln. Oder Poledancing. Die Provokation dabei ist, es "Futur Germania" zu nennen.

Geht es dann um das Anlegen eines Deutschlandarchivs?

Es geht nicht darum, wie ein künftiges Deutschland aussehen kann. Es interessiert mich nicht so sehr, Deutschland oder deutsche Identität als gegeben zu setzen oder als etwas, das eine Zukunft hat. Aber mich interessiert, mit dem, was existiert, darüber nachzudenken, wie es weitergeht. Also mehr der Prozess als der Kanon am Schluss. Was dabei rauskommt, ist natürlich nicht wirklich eine Institution wie ein Museum, die eine identitätsbildende Funktion hat. Sondern eine Reflexion darüber, wie Identitätsbildung funktioniert. Die Frage ist, wie mit dem historisch-symbolischen Material umgegangen wird.

Geht es Dir um Umdeutung?

Total. Es werden extrem unterschiedliche Leute gebeten, sich damit auseinanderzusetzen. […] Der Versuch ist, eine andere Art von Kollaboration zu finden.

Als Kollektiv?

Es geht darum, die Autor*innenschaft nicht zu leugnen. Ich bin der Initiator des Projekts. Es geht aber gleichzeitig darum, den Raum zu schaffen, in dem Leute mit verschiedenen politischen Haltungen und Projekten sich über etwas verständigen können und in eine Kooautor*innenschaft treten können. Interessant ist der Moment der Konsensbildung: Welche Sachen bleiben über die Bearbeitungen hinaus bestehen und welche werden ausgetauscht?

Wie sollte dieser Austausch sein?

Das hängt vom Interesse ab. Es ist geplant, dass das Stück relativ viel tourt. Die Frage ist eben nur, wann das in Anbetracht der aktuellen Lage möglich sein wird, weil es darum geht, dass möglichst viele Menschen aufeinandertreffen, die auch verschiedener Ansicht darüber sind, was es zu verhandeln gibt.

Kann Deutschland verändert werden, wenn es anders erzählt wird?

Ich glaube, dass die Art, wie Kollektive Geschichten über sich erzählen, beeinflusst, wie diese Kollektive funktionieren. Das ist keine utopistische Spekulation. Aber es ist der Versuch darüber nachzudenken, welche Geschichten und welche Praktiken erzählt werden sollten.

Ist die Möglichkeit zum Widerspruch der Motor des Museums?

Ja, genau. Es ist ein performatives Museum, also ein vergängliches. Es kommt nie zu einem Schluss. Ich finde es nicht interessant, einen Kanon für Deutschland zu finden, sondern eine Geschichte des Konflikts darüber. Der Streit über den Kanon ist interessanter als das Ergebnis.

Was ist Deutschland?

Deutschland ist eine extrem wirkmächtige Kategorie. Es geht aber nicht um die Rettung Deutschlands, sondern um Deutschland als Problem. Nicht im Sinne von: Deutschland, du mieses Stück Scheiße. Sondern als existierende Kategorie, mit der kritisch umgegangen werden muss, wenn darüber nachgedacht wird, wie eine Zukunft aussehen kann.

Um Deutschland zu verändern oder die Kategorie abzuschaffen?

Das Stück setzt Deutschland nicht als relevante Kategorie voraus, sondern als eine Sache, durch die mindestens durchgegangen werden muss, um zu etwas anderem zu kommen. Es geht darum, möglichst kreativ und produktiv mit dem Gegebenen umzugehen und mit dem Spekulieren nicht in einem leeren Raum anzufangen. Denn die Geschichte geht ja nicht weg.

Ist Dir der Konsens wichtig?

In der Reihe der performativen Auseinandersetzung mit den Artefakten ist jede Person in der Verantwortung. Wenn eine Person findet, dass das alles rausgeworfen werden muss, dann darf die das machen. Dann muss sie das aber begründen und muss für alles etwas Neues vorschlagen. Die Verantwortung bezieht sich also auch auf das, was die Personen davor gemacht haben. Die Idee, ein performatives Deutsches historisches Museum zu machen, ist natürlich nicht einlösbar. Aber dieser Trick ist eine Setzung, um über etwas nachzudenken, über das man sonst nicht nachdenken könnte.

Es gibt also kein Ende?

Der Prozess ist wichtiger als das Produkt. Es kann sein, dass etwas, das zwanzig Vorstellungen im Kanon war, rausgeworfen wird. Es gibt keinen Schluss. Das ist eine künstlerische Forschung, die ergebnisoffen ist und die mit der Premiere eigentlich erst beginnt.