“Man kann dem nicht entkommen”


Ein Interview mit der Künstlerin Laura Rolim de Carvalho über Gameshows, deutsch-brasilianische Unterschiede und Globalisierung im Zeitalter von Corona

von Morgan Rapp

Laura, was ist Deine Lieblings-Gameshow?

Das ist vielleicht ein bisschen schwierig zu erklären, weil das in Deutschland vermutlich niemandem etwas sagt. Meine aktuelle Arbeit basiert auf Gameshows, die in Brasilien im Fernsehen liefen, als ich 13 Jahre alt war. Ich weiß nicht, ob es hier in Deutschland etwas ähnliches gibt. Wobei das ja das Witzige daran ist, wie solche Unterhaltungsprogramme funktionieren: Sie sind alle dasselbe. Man nimmt ein Konzept, kopiert es und passt es vielleicht kulturell ein bisschen an.

Wie sahen diese Gameshows denn aus?

Da gab es zwei Programme, die mich inspiriert haben. Das eine war „Qual é a musica?“. Da treten Promis gegeneinander an und beantworten Fragen über Musik. In der Regel ging es darum, für irgendwas Geld zu gewinnen. Das andere heißt „Fantasia“. Das ist eine Show, in der Leute von zuhause anrufen und mit einer halbnackten, sehr attraktiven Frau um einen Geldpreis spielen.

Du hattest für das PAF eine Performance über solche Gameshows geplant. Wie hätte das ausgesehen?

Ich habe eine Version dieser Performance – LAURA_AkiÓ->PLAYtrucke – schon letztes Jahr in Berlin gemacht und davor in Rio de Janeiro. Ich habe einen Wagen, einen Trucke, den ich aus Gegenständen zusammengebaut habe, die ich auf der Straße gefunden habe. Den Wagen hätte ich noch ein bisschen verändert und wäre dann damit auf die Straße gegangen, hätte mit meinem Hut und Trucke „Lärm“ gemacht und Aufmerksamkeit erregt. In der Regel kommen die Leute dann auf mich zu, um zu sehen, was ich da mache. Dann spiele ich ihnen Popmusik vor und stelle Fragen, weniger über Musikwissen als über aktuelle politische und gesellschaftliche Themen. Am Ende gewinnen die Teilnehmer etwas zu Essen. Dieses Jahr wollte ich eine Currywurst machen.

Currywurst?

Ja, ich gebe den Leuten am Ende meiner Performances immer etwas zu Essen. Ich komme aus Brasilien und da haben die Leute nie Zeit. Also musst du ihnen was bieten, wenn du ihre Aufmerksamkeit willst. In meinem Fall eben Essen oder Getränke.

Warum eine Gameshow?

Als ich mit diesen Trucke-Performances angefangen habe, war es immer ich, die geredet hat. Mein Ziel war, vor allem die brasilianische Arbeiterschicht zu erreichen. Menschen, die nicht ins Museum gehen, vielleicht noch nie in einem Museum waren. Menschen, die vielleicht vertrauter mit Gameshows sind. Am Anfang war es mehr ein Monolog von meiner Seite und ich wollte einen Austausch, einen Dialog mit den Menschen. Da hatte ich die Idee mit der Gameshow, weil ein Austausch einfacher ist, wenn man ein Spiel zusammenspielt. Jetzt bin ich in Europa und das ist nochmal eine ganz andere Öffentlichkeit.

Reagieren die Leute hier in Berlin anders auf Dich als in Brasilien?

Ja. Ich komme aus einem sehr ungerechten Land. Da gibt es Menschen, die noch nie im Zentrum ihrer Stadt waren. In Berlin kennt jeder Mitte. In Brasilien aber mit seiner krassen sozialen Ungleichheit müssen die meisten Menschen so viel arbeiten, um über die Runden zu kommen, dass sie ihr Viertel kaum verlassen. Sonntags haben sie frei und da putzen sie ihre Wohnung. Das ist eine ganz andere Öffentlichkeit als in Berlin, und die will ich eigentlich erreichen. Ich mache meine Kunst auf der Straße und nicht in Museen oder Galerien, weil diese Menschen oft Angst haben, angestarrt zu werden, wenn sie an solche Orte gehen. Die Gesellschaft vermittelt ihnen, dass sie zu arm für solche Orte sind und da nicht hingehören.

Hast Du den Eindruck, dass Du diese Leute auch tatsächlich erreichst?

In Brasilien war das mein Ziel. Es ist aber auch eine komplizierte Situation. Wenn du Künstlerin von Beruf bist, brauchst du das richtige Image und musst deine Kunst an die richtigen Institutionen verkaufen. Wenn du aber mit Menschen arbeiten willst, die nicht das Publikum dieser Institutionen sind, bist du auf dich allein gestellt – in Brasilien gibt es sehr viel weniger Unterstützung für Kunstschaffende als in Deutschland. Also habe ich sie vielleicht nicht erreicht, nein. Das war einer der Gründe, weshalb ich nach Berlin gekommen bin. Hier habe ich mehr Freiheit und kann die Kunst machen, die ich machen will, ohne meine Seele an den Teufel zu verkaufen. (lacht)

Haben deine Arbeiten in Brasilien mehr Eindruck hinterlassen?

Das weiß ich nicht. In London habe ich eine meiner Trucke-Performances über den Brexit gemacht und das Ergebnis war großartig! Die Leute waren offener für einen Dialog und hatten mehr Zeit. Sie haben mehr Fragen gestellt und das Ganze ernster genommen. Berlin ist da nochmal anders als London. Hier ist jeder verrückt und spontan und niemanden interessiert es, wenn du nackt die Straße runterläufst.

Ist es in Berlin schwieriger, die Leute zu überraschen?

Es ist schwieriger, Lärm zu machen, Aufruhr zu verursachen. Ihr seid hier sehr an Lärm gewöhnt. Und daran, Sachen nicht anzuschauen. Du hast die Freiheit, alles zu tun, was du willst. Viel Glück! Das fühlt sich ganz anders an als London und Brasilien. Man ist hier an verrücktes Zeug gewöhnt.

Dein Trucke und auch der Hut, mit dem du arbeitest, sehen schon ziemlich verrückt aus. Woher kam die Idee dafür?

Der Hut ist einfach passiert. An der Uni sollten wir eine Karte machen und ich habe alles, was ich auf meinem Weg gefunden habe, in diese Arbeit eingebaut. Das hat sich dann zu dem Hut entwickelt. Auch der Trucke ist so aufgebaut. Er besteht aus allem, was ich so gefunden habe. In Brasilien gibt es viele informelle Arbeiter*innen. Die haben alle ihren eigenen kleinen Wagen, mit dem sie durch die Stadt ziehen. Das ist die Ästhetik meiner Arbeit und soll auch ausdrücken, dass ich genau mit dieser Art von Menschen kommunizieren will.

Veränderst Du den Trucke für jede Stadt, in der Du arbeitest?

Ja. In Brasilien habe ich Popcorn gemacht und über die politische Spaltung und Polarisierung des Landes geredet. In London gab es Tee. Für die Gameshow habe ich jetzt zwei Versionen: eine brasilianische und eine deutsche. Aber ich habe auch an einer chilenischen und einer nordamerikanischen Version gearbeitet. Das Format funktioniert wie ein Rahmen. Das hilft mir, mich für Kunstresidenzen zu bewerben. Wenn du dich auf Residenzen verlässt, musst du die ganze Zeit Bewerbungen rausschicken. Da ist es gut, etwas zu haben, dass man an viele verschiedene Kontexte anpassen kann. In meiner Gameshow geht es um den Ort und nicht um die autonome Künstlerin.

Deine Arbeit setzt sich mit der ökonomischen und politischen Krise in Brasilien auseinander. Siehst du diese Krise noch durch die Corona-Pandemie verschlimmert?

Es ist fürchterlich. Brasilien ging es schon vorher schlecht. Das ist die Konsequenz dafür, einen Mann gewählt zu haben, der sich nicht um arme schwarze Menschen kümmert und den Amazonas zerstört. Es ist eine Regierung des Völkermords. Darum geht es: unser eigenes Volk zu töten. Die Pandemie hat das nur noch schlimmer gemacht. Ich glaube, das ist irgendwo Gerechtigkeit: Die Leute bekommen, was sie verdienen. Die Situation ist beschissen, und Corona lässt sie explodieren. Aber Brasilien beginnt, aus seinen eigenen Fehlern zu lernen.

Ist es eine Chance für Wandel?

Mit Sicherheit, aber wir dürfen nicht so romantisch sein. Ich weiß, hier ist alles in Ordnung, aber schau dir den Rest der Welt an. Ich glaube, ihr verliert euch hier manchmal in romantischen Ideen, weil Deutschland einen stabilen, sozial-demokratischen Staat hat. Für die kapitalistische Welt, in der wir leben, ist das nicht normal. In Großbritannien oder den USA gibt es diese Denkweise nicht, dass der Staat den Menschen, die es brauchen, Geld gibt. Ich hoffe, Deutschland kann so weitermachen wie bisher. Die Welt wird nach dem Virus sehr verändert sein. Brasilien geht zugrunde, die USA auch. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das auch hier ankommt. Wir leben in einer globalisierten Welt. Man kann dem nicht entkommen. Also ja: Mit Sicherheit wird es einen Wandel geben, aber eher wie der Zweite Weltkrieg Wandel bedeutete. Menschen sterben. Wir werden leiden. Es wird hart. Und durch das Leiden kommt Wandel, aber der erste Schritt ist der Schmerz.

Wie betrifft dich die Krise als Künstlerin?

Ich bin sehr stark betroffen. Eigentlich hatte ich geplant, in die USA zu reisen, habe aber die Förderung vom Goethe Institut dafür verloren. Ich wollte an drei Festivals teilnehmen. Eins ist ganz abgesagt worden und die andern beiden – darunter das PAF – sind jetzt online. Das heißt, ich kann meine Kunst nicht wirklich zeigen und bekomme auch nicht die Werbung durch das Festival. Ich habe kaum Bilder von meinen Straßenperformances, deswegen ist das besonders schwierig für mich.

Es ist also auch finanziell schwierig.

Ja. Ich bin hier in Deutschland auf einem Studierendenvisum, das im Juli ausläuft, und bekomme keine Unterstützung vom Staat. Ich kann nicht zurück nach Brasilien. Das würde bedeuten, voller Angst zuhause eingesperrt zu sein oder eben zu sterben. Vielleicht sehe ich deswegen alles so schwarz. Eigentlich warte ich auf meine italienische Staatsbürgerschaft, aber Italien ist natürlich im Moment zu. Es sieht so aus, als könnte ich im August in der Schweiz eine Kunstresidenz machen und dafür wurde mir ein Arbeitsvisum angeboten. Aber natürlich wird das eher wie Urlaub sein, weil ich meine Kunst ja trotzdem nicht zeigen und nicht auf der Straße auftreten kann.

Wie gehst du damit um?

Ich laufe mit dem Kopf gegen die Wände (lacht). Es ist schwierig. Ich bin in keiner guten Situation, aber gleichzeitig geht das Leben weiter. Erst einmal gehe ich in die Schweiz und dann werde ich versuchen ein Kunstvisum in Deutschland zu bekommen. Also wenn du irgendwen kennst, der so tun kann, als ob er mich einstellt… (lacht) Ich habe meinen Glauben. So ist das Leben. Wir müssen positiv bleiben, sonst können wir nicht weitermachen.

Wirst du versuchen, mehr online zu arbeiten?

Ja, Ich will versuchen Online-Performances zu machen, aber ich brauche Geld und Ressourcen dafür. Und ich mag es nicht. Es geht schon wieder um den Markt und das System. Jetzt muss ich online sein. Ich muss mich anpassen und alles verändern. Ich glaube, wir brauchen mehr Zeit. Uns wird keine Zeit zum Verdauen gegeben! Die Welt hat sich in nur zwei Monaten wirklich verändert. Und wir brauchen jetzt Zeit, um damit umzugehen.

 

 

Laura Rolim de Carvalho ist eine multi-mediale Künstlerin aus São Paulo. Sie lebt und arbeitet im Moment in Berlin. Als LAURA_AkiÓ performt sie weltweit. Ihre Arbeiten haben oft ein offenes Konzept, um einen Dialog zwischen Künstlerin und Teilnehmenden zu fördern. In ihren Performances benutzt Carvalho gefundene Objekte, die sie mithilfe ihrer Nähkünste umgeformt und neu kontextualisiert hat. Der Fokus ihrer Arbeiten liegt dabei auf gesellschaftlichen Strukturen und prekären Lebenssituationen.