Spielen oder nicht spielen?
Janina Benduski ist Programmdirektorin des Landesverband freie darstellende Künste Berlin, der das Performing Arts Festival Berlin veranstaltet. Sie ist Vorsitzende des Bundesverband freie darstellende Künste. Ein Gespräch über Widerstandsfähigkeit, Digitalkompetenz und Barrierefreiheit der freien Szene und das PAF in Zeiten von Corona.
von Iven Fenker
Seit Dienstag läuft das Performing Arts Festival Berlin, das wegen der Corona-Pandemie digital stattfinden wird. Was ist in diesem Jahr anders?
Alles. Charakteristisch für das PAF waren immer die Orte, die es zu entdecken gibt, dass das Publikum auch an unbekanntere Spielstätten und besondere Orte gelockt wurde, um die Arbeiten der freien Szene zu sehen.
Wird das Festival mehr Publikum erreichen, weil das Programm leichter zugänglich ist?
Irgendwie ist da immer die Hoffnung, dass man ein paar Menschen erreicht, die sich nicht in ein Theater trauen. Ein Teil der Bevölkerung hat aber gar nicht die Technik. Untersuchungen über Barrierefreiheit in der digitalen Kunst gibt es fast keine. Ich könnte mir vorstellen, dass die Reichweite gerade sehr groß ist, weil Menschen Sehnsucht haben nach Theater.
Wie steht es denn um die Barrierefreiheit in der freien Szene?
Ich glaube, das Wissen und der Wille ist groß und es scheitert dann manchmal an materiellen Ressourcen. Bezogen auf die physische Barrierefreiheit sind es oft ältere Gebäude, in denen es zum Beispiel einfach keinen Fahrstuhl gibt. Was die Arbeit an Barrierefreiheit darüber hinaus angeht, ist in den letzten Jahren viel passiert. Das PAF findet nur auf datensicheren offenen Plattformen statt, die auch eine gewisse Zugänglichkeit gewährleisten. Es gibt auch in Teilen Übersetzung in Gebärdensprache. Aber wir können natürlich nicht ausgleichen, wenn jemand einfach keine Hardware hat.
Wird in Zukunft mehr für digitale Formate produziert werden?
Viele Menschen sagen zur Zeit: Streaming ist doch keine Alternative. Dabei hat das, glaube ich, überhaupt nie irgendwer behauptet. Ich glaube, dass es schon vorher viele künstlerische Ansätze gab, die Interesse hatten an spannenden digitalen Formen. Die haben weitergemacht und sind sichtbarer geworden. Und es gibt viele, die interessiert das einfach nicht, weil es ihnen um die direkte physische Begegnung mit Menschen geht.
Was wird sich also ändern?
Der Blick von Gesellschaft und Politik auf bestimmte Strukturen, die es im Internet braucht, um vernünftig Netzkunst zu betreiben. Ich glaube aber nicht, dass die neuen Formen Performancekunst im klassischen Sinne ersetzen können.
Was hat sich denn schon verändert?
Digitalität und Theater waren oft künstlich getrennt, obwohl unser Leben so sehr mit der digitalen Welt verbunden ist. Das ändert sich gerade. Das wäre aber sowieso passiert.
Wie geht es der freien Szene gerade?
Viele geraten in enorme Existenzangst und haben dann wenig Bewegungsfreiheit, weil der erste Schritt ist, das Überleben zu sichern. Deswegen ist der Verband gerade so aktiv im kulturpolitischen Diskurs.
Der Landesverband für freie darstellende Künste.
Genau. Da geht es darum, das mit den Existenzsicherungskosten für Selbständige besser hinzukriegen. Wenn die gesichert wären, könnten die sich auf das konzentrieren, was sie künstlerisch tun. Auf der anderen Seite habe ich nicht das Gefühl, dass in den größeren Häusern jetzt das künstlerische Experiment tobt.
Also garantiert Absicherung nicht eine innovative Kunst?
Es gibt Leute, die sagen, man muss arm und prekär sein, um kreativ zu sein. Das halte ich für kompletten Irrsinn. Ich halte es aber genauso für Irrsinn, zu sagen, dass sobald genug Geld da ist, da Sachen passieren. Die Staatstheater zeigen gerade eher ihr Archiv.
Gibt es denn in der freien Szene Archive?
Nein, leider gar nicht. Auch die großen Häuser kommen nicht hinterher, aber die haben wenigstens die Grundstruktur, in der die Sachen abgesichert sind. In der freien Szene liegt das Meiste zuhause auf dem Dachboden oder im Arbeitszimmer. Und dann ist da die Generation, wo es auch um Erbe geht und Nachlässe. Die Gefahr besteht, dass das alles verloren geht, weil die Aufbewahrungstechnik teilweise nicht hält. Die Fotos verbleichen. Die Bänder gehen kaputt. Da haben wir nur noch ganz wenig Zeit.
Was muss jetzt passieren?
Wir versuchen gerade eine bundesweite Initiative, die heißt Performing the Archive. Da geht es darum, ein lebendiges Archiv zu entwickeln. Bei der Gründung des PAF haben wir auch gedacht, dass das Festival eine Art Archiv sein kann, in dem wir einmal im Jahr versuchen zu zeigen, was es in der Szene gibt. Darüber entsteht ein Einblick in die jeweilige Zeit. Jetzt, beim fünften PAF, sieht man schon, was sich verändert hat. Und in dieser besonderen Situation wird es später mal ein Archiv der freien Szene in der Coronazeit sein.
Hast du wegen Corona gerade mehr oder weniger zu tun?
Mehr. Viel mehr. Die Coronakrise macht sichtbar, was es vorher sowieso gab an Ungleichheit. Zusätzlich gibt es noch das Phänomen, dass es eine Ungleichzeitigkeit gibt. Menschen, die sonst performen, sind jetzt in einer arbeitsunfähigen Situation und dann fehlt Geld. Die brauchen dann sehr viel Beratung und Unterstützung. Und Menschen, die in Beratungs- und Unterstützungsstrukturen arbeiten, kriegen daher gerade wirklich sehr viele Mails.
Worum geht es jetzt in diesen Strukturen?
Kulturpolitisch passiert gerade viel. Die Steuerschätzungen sind da und es wird viel weniger Geld da sein. Jetzt darauf zu achten, dass nicht die Kultur das erste ist, was gekürzt wird, ist eine ganz schön große Aufgabe.
Wird die freie Szene widerstandsfähiger durch die Krise?
Ich glaube, dass die Krise an vielen Stellen Dinge offenbart hat, auf die wir schon vorher aufmerksam gemacht haben, um besser arbeiten zu können.
Worum geht es da?
Um flexiblere, vertrauensvollere Förderungen für einen längeren Zeitraum zum Beispiel. Überall, wo es diese Fördermodelle gibt und wo die Leute sich darin frei bewegen können, ist die Krise leichter zu umgehen. Die planen dann um oder machen andere Formate. Überall dort, wo in einer kurzen Projektlogik finanziert wird, ist es schwierig. Das ist aber nicht neu. Das haben wir schon vorher gesagt.
Gibt es ein Einigungspotential in der freien Szene?
Ich glaube schon lange. Die Gespräche zur aktuellen Situation laufen. Morgen bei der PAF-Eröffnung gibt es zum Beispiel ein Kleingruppen-Gespräch zu der Frage: Spielen oder nicht Spielen? Proben oder nicht Proben?
Wie kann man da zu einer Antwort finden?
Es ist wahrscheinlich klüger über die konkreten Formate zu sprechen und auch direkt mehr mit den Leuten. Man sollte nicht generell alles in einem Gebäudetyp länger verbieten als in dem anderen und nicht generell bei den ersten Lockerungen sofort alles wie vorher erzwingen wollen. Die Praxis muss stärker eingebunden werden. Uns als Verband hat dazu nie jemand gefragt.
Also, wenn sich die Politik an den Landesverband oder Bundesverband für freie darstellenden Künste wenden würde?
Genau. Da wird gerade viel diskutiert. Ich glaube, dass da bald ein Konsens erreicht sein wird, auch wenn der Konsens nur ist: Wir sind uns nicht ganz sicher, wie der Weg für alle aussehen soll, aber es wäre wichtig, wenn alle es so machen könnten, wie es für sie konkret passt.
Was wird unter der Dramatik der Krise gerade vergessen?
Wer hat sich zum Beispiel mal Gedanken über Diversität im Onlineangebot gemacht? Was ist mit Antidiskriminierungsmaßnahmen? Das spielt auf einmal keine Rolle mehr, weil alle darüber reden müssen, ob die Premierenfeier überhaupt online funktioniert oder nicht. Die Gefahr besteht schon, dass ein paar wichtige Themen verloren gehen.
Also geht es jetzt darum zu verhindern, dass man nicht zurückfällt?
Es scheint ein menschlicher Reflex zu sein, dass bei der Übertragung in ein neues Medium versucht wird, alles neu zu machen. In vielen Fällen ist es aber wie immer. Wir sollten rücksichtsvoll miteinander umgehen, am Bildschirm und auch sonst.
Wie kommen wir aus der Krise?
Ich finde es okay, wenn es an manchen Stellen auch einen gewissen Schockmoment gibt. Aber eigentlich ist das ein sehr reiches, organisiertes Land und mich wundert, warum die digitale Zivilgesellschaft so lange auf sich warten lässt. Ich glaube, da können alle etwas beitragen.
Was zum Beispiel?
Weniger datenschutzfeindliche Social Media nutzen… Sagt ein Festival, dass eine Facebook- und Instagram Seite hat. Dass das schwierig ist, ist klar.
Wie ist denn die Digitalkompetenz der freien Szene?
Es ist wichtig, dass über digitale Sicherungstechniken informiert wird, dass möglichst viele digitale Selbstverteidigung lernen, meinetwegen auch gerne ein wenig subversives Hacken. Das fehlt übrigens allen, nicht nur der freien Szene. Es fehlen aber auch dringend sichere digitale Infrastrukturen, die einfach funktionieren. Man kann ja nicht von jedem Menschen ein Hackerwissen verlangen.
Und wie ist das PAF aufgestellt?
Wir haben ewig recherchiert, um vertrauenswürdige Videokonferenzanbieter zu finden. Das ist ein riesiger Aufwand. Das sollte leichter sein.
In der freien Szene muss oft selbst produziert werden. Ist das unter den Bedingungen gerade nicht noch schwieriger?
Eigentlich ist alles wie immer - es wird nur noch sichtbarer, wo Unterschiede in der Ausstattung sind. Beim PAF siehst du alles, Menschen, die sich selbst produzieren und die von Häusern produziert werden. Die "Introducing..."-Plattform zum Beispiel ist eine Produktion von uns, zusammen mit den Häusern. Da helfen wir dann auch bei der technischen Infrastruktur.
Werden sich die Produktionsbedingungen verändern?
Ich bin nicht sicher, ob die Besonderheiten und Ungleichheiten nicht einfach weiter so sind wie früher. In der freien Szene, wenn das Geld für die Produktion von Kunst direkt bei den Künstler*innen ist, entsteht eine Machtbalance mit den Häusern. Im Gegensatz zum klassischen Intendanzmodell. Das freie Produzieren ist meist eine Mischform, wo eine Künstler*innengruppe eine Grundfinanzierung hat und die Häuser gehen da mit einer Koproduktion rein. Dadurch, dass beide Seiten und oft mehrere Häuser beteiligt sind, entsteht geteilter Zugriff und Verantwortlichkeit und das ist immer hilfreich.
Sollten Entscheidungspositionen öfter aufgeteilt werden?
Es kann helfen. Eine einzige kuratorische Handschrift kann auch sinnvoll sein. Es ist zum Beispiel sehr sinnvoll, dass eine mehrköpfige Jury eine hochdotierte mehrjährige Förderung vergibt. Bei einem kuratierten Festival ist eine einzelne künstlerische Handschrift eher eine Form von Werk, die nicht dauerhaft etwas mit Machtbalancen zu tun hat. Da ist die Frage eher, wieviele Menschen wie lange die Chance zum Kuratieren haben.
Wie ist das beim PAF?
Nachdem ich das PAF mit Stefan Sahlmann die ersten drei Jahre geleitet habe, haben wir entschieden, die Festivalleitung abzugeben, damit das ab und zu wechselt. Wir haben das dann ausgeschrieben und Sarah Israel hat es im letzten Jahr noch zusammen mit mir geleitet. Dieses Jahr macht sie es zusammen mit Tessa Hartig in einer Doppelspitze. Von Anfang an haben wir die Leitung auf drei bis fünf Jahre begrenzt gedacht. Ich glaube, da können wir nur alle möglichen Dinge ausprobieren, an Methoden, an zeitlichen Wechseln. Es gibt so viele Automatismen was Macht angeht. Daran kann man nur arbeiten.